BBV, 22.06.2010 Von Peter Hautzinger Bocholt. „Mein Bestreben war immer, den Hörer an die Hand zu nehmen und ihn durch das Musikstück zu führen, denn er kennt es nicht so gut wie ich“, schrieb einmal die berühmte Organistin und Schülerin von Karl Richter, Hedwig Bilgram. Das hätte auch der amerikanische Orgelvirtuose Stephen Tharp, Solist des dritten und wohl spektakulärsten Konzertes der Bocholter Orgeltage, für sich reklamieren können. Virtuosität bis an die Grenzen des Möglichen, sie aber nicht um des Effektes willen überschreitend, transparente Interpretationen, auch durch kluge Registrierung, um die Musikstrukturen der stilistisch so unterschiedlichen Werke hörbar zu machen, und eine tiefgehende Musikalität und Gestaltungskraft: Mit diesen Hauptmerkmalen seines Spiels überzeugte der weltweit anerkannte Konzertorganist Stephen Tharp das Bocholter Publikum. Schon der Auftakt war fulminant und außergewöhnlich: Die Interpretation der „Toccata Labyrinth“ von David Briggs, Komponist und Kathedral-Organist in Gloucester, der dieses komplexe und klangvirtuose Stück Stephen Tharp widmete, riss die Zuhörer von Beginn an mit machtvollen Akkorden und virtuosen Triolen-Passagen (von der d-Moll-Toccata Bachs wird wohl jeder Komponist inspiriert) in ihren Bann. Als Kontrast - beinahe wie eine meditative Fermate - dann von César Franck, diesem großen französischen Komponisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Orgelkomposition „Prière“ (Andacht). Die Stimmung wechselt hier in melancholisch gehaltenes cis-Moll. Musik sollte grundsätzlich als ungegenständliches, begriffloses „reines Tönen“ bestimmt werden, das heißt aber nicht, dass Musikerleben nicht auch gegenständliche Momente und Gefühlsassoziationen aufweist. In „Prière“ ist dies eine schwermütige, ja traurige Grundstimmung. Auch wenn im Anfangsteil des Werkes sich nach einem Pedal-Solo eine Pedal-Solo spannungsvolle, melodische Klangentfaltung entwickelt, die im rezitativischen Mittelteil durch Motivwiederholungen und choralartige Themen noch gesteigert wird - das Stück endet in der Grundstimmung des Anfangs: in grüblerischer Hamlet-Melancholie - gleichermaßen traurig und wunderschön. Mit dem anschließenden „Salve Regina“, sei gegrüßt, Königin, vom noch jungen französischen Komponisten und Titularorganisten von Notre Dame, Olivier Latry, konnte der Gegensatz kaum größer sein. Von dem sechsteiligen Werk können aus Platzgründen nur punktuelle Eindrücke herausgegriffen werden. Die marianisch-gregorianischen Antiphonen wurden von Lena Tharp vor Beginn jedes Satzes knabenhaft-schlicht, vibratolos und angemessen unprätentiös gesungen. Im „Martelé“, sauvage (für Streicher bedeutet „martelé“ gehämmert) wechseln zupackende, akzentuierte Akkorde mit atemlos rasenden Sechzehntelpassagen - meisterlich von Stephen Tharp bewältigt. Im letzten Satz „comme une lente procession“ wirkt dann alles wie überwölbend. Gregorianische Motive werden zu machtvoller Klangdichte gesteigert. Das Werk endet in einem jubelnden Gesang. Die Tonsprache, immer weniger modern und immer tonaler werdend, huldigt Maria, der Königin im fortissimo und dann noch einmal als Reminiszenz andächtig im piano. Wann konnte man dies vorher so authentisch hören? Nach „Meditation“ von Louis Vierne spielten Stephen Tharp und Jackson Borges vom belgischen Komponisten Joseph Jongen die Toccata aus der „Symphonischen Concertante“ - von Tharp vierhändig transkribiert - und setzten damit (das Stück ist vielleicht der Superlativ aller Toccaten) einen so hochvirtuosen Schlussakzent, dass die Zuhörer aus einem gemeinsam empfundenen Impuls sich bei Tharp und allen Mitwirkenden mit Ovationen bedankten. Chapeau den Initiatoren und Organisatoren für dieses Konzert.
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